DIE "DURCHLASSFÄHIGKEIT" FÜR DEN AUTOVERKEHR IST IMMER NOCH DIE HEILIGE KUH.
Ulrich Patzer ist einer der Urgesteine des ADFC in Sachsen. Schon zehn Jahre vor der Gründung des ADFC Sachsen für sichere und durchgängige Radwegenetze in Leipzig aktiv, war Patzer 1989 Gründer der "AG Rad Leipzig", bei der - Monate vor der friedlichen Revolition - Stadtverwaltung und enagierte Bürger in einen Dialog über zu Radverkehrsthemen traten. Von 1990 bis 2010 war Patzer Vorsitzender des ADFC Leipzig und nahm sich dabei stets Zeit für einen Blick über den Tellerrand. Gespräch mit einem Radaktivisten im Unruhestand.
Schon 1980 gab es in Leipzig erste bürgerschaftliche Aktivitäten für den Radverkehr. Wie hat das für dich begonnen?
Meine Zahnärztin Maritta war die Mutter eines Schülers, den meine Frau im Cello unterrichtet hat. Die hat mir eines Tages, als ich bei ihr auf dem Zahnarztstuhl saß, von der Gründung einer Umweltgruppe erzählt und gesagt: „Wäre das nicht auch was für dich?“ Da habe ich spontan genickt.
Ja, so ging das los – vor inzwischen ziemlich genau 40 Jahren. Ich selbst hatte also keine Initialzündung in mir für ein aktives Bemühen um unsere Umwelt. Ich bin geworben worden. Von einem Mitglied der gerade gegründeten Fachgruppe Umweltschutz Leipzig-Süd im Kulturbund der DDR, die erste die es in Leipzig überhaupt gab.
Das war also eine konspirative Anwerbung in der Zahnarztpraxis!
Ja, das kann man so sagen (lacht).
Das zeigt auch, dass es für die Werbung zur Gründung der Gruppe keine Zeitungsannonce oder Plakate an Litfaßsäulen gab?
Nun, das waren ganz andere Zeiten! Selbst wenn sowas gegangen wäre: Da wäre sicher auch gleich die Stasi aufmerksam geworden. Ich selbst habe immer versucht, die Möglichkeiten der „sozialistischen Demokratie“ auszureizen. So hieß das ja. In diesem Rahmen habe ich sogar einmal eine Gewerkschaftswahl in meinem Kombinat Geophysik erfolgreich angefochten. Die musste dann wiederholt werden. Die Möglichkeiten, die es gab, waren natürlich recht begrenzt. Ich habe aber immer wieder mal versucht, diese auszureizen. Nun, ich war da schon ein bisschen ein Querulant.
Wie seid ihr in dieser Umweltgruppe im Kulturbund ausgerechnet dazu gekommen, euch mit dem Radfahren zu beschäftigen?
Eigentlich sehr naheliegend: Das war ja eine Sache, bei der alle Mitglieder eigene Erfahrungen hatten. Jeder in der Umweltgruppe ist ja selbst Fahrrad gefahren. Unsere Gruppe war keine „Auto-Fraktion“ im Kulturbund. Und, auch nicht gerade unwichtig: Das Fahrradfahren war ein Thema, das nicht allzu brisant war, bei dem die Stasi nicht sofort anrückte. Im Gegensatz zur Atomproblematik oder der Luftverschmutzung. Radverkehr war ein Thema, bei dem alle mitreden konnten. Und da haben wir uns also schnell darauf geeinigt.
Und was habt ihr dann gemacht?
Wir haben uns zusammengesetzt und die Probleme, die jeder Alltagsradfahrer hatte, zusammengestellt. Das Papier haben wir an die Verwaltung geschickt. Die hat auch reagiert. Nun, sie wollten uns ja irgendwie unter Kontrolle haben. Und sicherstellen, dass alle Aktivitäten möglichst unter ihrem Radar laufen. So wurden dann auch ein paar Änderungen veranlasst. Beispielsweise wurden Radfahrverbote in Parks aufgehoben und ein paar Radrouten im Grünen verbessert. Das geschah aber schon in einem sehr begrenzten Rahmen.
Wann war das?
Das war Anfang der 80er Jahre. Uns war dann aber schon klar: Das kann es nicht gewesen sein. Wir wollten etwas „Richtiges“ machen! Unser Mitglied Bobby, der 1981 die erste Radverkehrs-Analyse geleitet hatte, war inzwischen in den Westen gegangen. So wurde jemand gesucht, der sich da den Hut aufsetzt. Und da haben dann alle mich angeguckt. - Seitdem bin ich mit Radverkehr beschäftigt.
Vorher habe ich mich sehr viel mit Musik befasst. Nicht nur konsumiert, sondern sehr viel selbst musiziert, auf verschiedensten Instrumenten. Habe mich auch recht intensiv mit dem berühmtesten aller Thomaskantoren beschäftigt, besonders mit seinem Leben und Wirken. Seitdem ich aber hier den Hut aufgesetzt bekommen hatte, ist der Johann Sebastian leider ziemlich in die zweite Reihe gerückt. Aber das Radfahren war einerseits ein ungemein spannendes Thema. Und vor allem: Da war wirklich akuter Handlungsbedarf angesagt!
Von Volkmar Zschocke aus Chemnitz haben wir erfahren, dass man durchaus auch in Schwierigkeiten mit der Stasi kommen konnte. Gab es bei euch auch Aktionen, die die Stasi auf den Plan riefen oder konntet ihr das immer umschiffen?
Mein Credo war: Immer so zu agieren, dass die Stasi nicht anrückt und uns nicht bedrängen kann. Unter meiner Regie ist dann ein 275 Seiten starkes Papier zum „Radverkehr in Leipzig“ zustande gekommen. Das kann man sich gar nicht so recht vorstellen, dass und wie sowas als rein ehrenamtliche Aufgabe gelaufen ist. Um die 30 Personen waren daran beteiligt. In dieser Studie wurden alle möglichen Mängel zusammengestellt sowie Vorschläge für Verbesserungen gemacht - ein Riesenwerk.
Als wir dieses Dokument fertig hatten standen wir vor einem Riesenproblem: Wie kann das vervielfältigt werden? In der DDR ging sowas nur dienstlich. Nun, da bin ich zu meinem Generaldirektor gegangen, den ich persönlich recht gut kannte: “Jürgen, wir brauchten da ein paar Exemplare, die wir den Zuständigen übergeben können.“ Darauf er, nach kurzer Durchsicht des Papiers: „Hier kommt ja die Politik unserer Partei und Regierung nicht vor - das muss rein! Und die Westliteratur zum Radverkehr - das muss raus!“ Ich habe ja damals in der Forschung gearbeitet. Und da gab es in den Forschungsberichten, die wir verfassten, eine Standardaufgabe: Auf den ersten Seiten musste immer Bezug auf Parteitagsbeschlüsse genommen werden und was sie für unsere Forschungsaufgaben bedeuten. - Ja, das war schon recht bizarr!
Wie sind die Kopien schlussendlich entstanden?
Der Herbert aus unserer Umweltgruppe war Chef eines kommunalen Unternehmens, wo das Kopieren von Dokumenten standardmäßig lief. Dem habe ich das Problem geschildert. Er hat es dann auf seine Kappe genommen und etliche Kopien herstellen lassen. Ohne ihn hätte das ganze Thema weiter geschmort – mit völlig offenem Ausgang.
Die Exemplare haben wir dann verteilt und auch dem Stadtrat für Verkehr vorgelegt. Damit wir nicht vielleicht konspirativ weitermachen, hat uns die Verwaltung etwas angeboten: Und so ist am 6. Juli 1989, also noch vor unserer friedlichen Revolution, die AG Rad gegründet worden, die es auch heute noch gibt. Dort sind alle städtischen Ämter, die sich mit dem Thema Rad beschäftigen, vertreten sowie zwei Mitglieder des ADFC. Diese Arbeitsgemeinschaft Radverkehrsförderung (so der offizielle Name) ist also ein Jahr älter als der ADFC Leipzig und der ADFC Sachsen.
Wie kam es dann zur Verbindung mit dem ADFC? War das aus eurer Sicht ein logischer Schritt, oder gab es vielleicht auch Angst vor Vereinnahmung?
In Leipzig hat sich dann sehr schnell der Ökolöwe gegründet, in dem ich von Anfang an Mitglied bin. Der Bundesvorsitzende des ADFC, Karl-Ludwig Kelber, kam auch ziemlich zeitig zu uns. Und er ist da wirklich nicht als „Besserwessi“ gekommen, sondern hat uns sehr behutsam gezeigt, wie es gehen könnte. Zuerst haben wir uns als „Sektion Radlerfreunde“ dem Ökolöwen angeschlossen, nicht viel später dann den ADFC Leipzig gegründet.
In „Vorwendezeiten“ hatten wir Kontakt zu Umweltinitiativen in Halle und auch in Dresden, wo es die „IG Radverkehr“ gab. Wir haben uns da gegenseitig bestärkt - aber sehr viel mehr auch nicht. Trotzdem: Das war schon eine Ermunterung: Man wusste, dass es in anderen Städten auch rumort und dass es dort Leute gibt, die sich auch für solche Ziele einsetzen.
Wie habt ihr voneinander erfahren? Sicherlich nicht über eine Website.
Die Kenntnis ist wahrscheinlich über einige Verstrickungen und Umwege gekommen. Dass es auch in Chemnitz Initiativen gab war uns nicht bekannt. – Später, nach dem denkwürdigen 9. Oktober 1989 mit 70.000 Unzufriedenen, sind wir natürlich mit dem Fahrrad und auch mit Plakaten, speziell zu Fahrradthemen, um den Leipziger Innenstadtring gezogen.
Das war sicher nicht alles, was du später ´Pro Rad´ unternommen hast? Wo warst Du, außer deinem langjährigen Wirken als ADFC-Chef in Leipzig, später noch aktiv?
In den 90er Jahren bin ich lange Zeit auch auf Landesebene für den ADFC aktiv gewesen: Als Vertreter des ADFC Sachsen im „Lenkungsausschuss Verkehrssicherheit“ des Freistaates. Dort habe ich die recht autozentrierte Denke vieler Fachleute im Verkehrsministerium und drumherum hautnah erleben können. Im Bundesfachausschuss Radverkehr, dem ich auch um die 20 Jahre angehört habe, wehte da natürlich ein ganz anderer Wind: Dort haben hochqualifizierte Fachleute - ehrenamtlich -versucht, aktuelle Erkenntnisse der Verkehrs- und Unfallwissenschaft für die Weitervermittlung an Interessierte vor Ort und an die diversen für diese Belange zuständigen Behörden aufzubereiten.
Was, würdest du rückblickend sagen, ist in deiner Zeit als ADFC-Vorsitzender super gelaufen, was würdest du heute völlig anders machen?
Rückblickend kann ich mir nicht vorstellen, was ich hätte wesentlich anders machen sollen. Ich bin 20 Jahre hier Chef gewesen und dann auch zum Ehren-Vorsitzenden des ADFC Leipzig ernannt worden. Gemeinsam haben wir, neben allerhand auch medienwirksamen Aktionen und unseren generellen Bemühungen um Präsenz in den Medien, nicht nur am großen Rad gedreht. Sondern vor allem auch die „die Mühen der Ebene beackert“, insbesondere auch in der städtischen AG Rad. Im Wissen, dass wirkungsvolle Radverkehrsförderung aus tausenden Einzelbausteinen besteht. Das ist häufig schon schwer genug gegenüber der Verwaltung gewesen, und das ist es auch heute noch ähnlich.
Einer meiner Nachfolger ist heute Radverkehrsbeauftragter von Leipzig. Das ist ein nicht gerade stressarmer Job. Denn gerade im Verkehrsbereich gibt es noch viele Fachleute, die ihre Ausbildung hatten, als das Auto noch das Maß aller Dinge war - und wo das Fahrrad eher gestört hat.
Eine teilweise immer noch recht autofixierte Sichtweise in der Verwaltung merke ich besonders auch beim Radverkehr an Baustellen: Der oder die Radfahrende wird da mit – in aller Regel – benutzungspflichtigen Führungen an den Rand gedrängt. Wo sie weniger stören – jedenfalls den Autoverkehr. Und wo die mit dem Rad sich dann mit den Zufußgehenden irgendwie arrangieren müssen. Jedenfalls, wenn sie sich an die vorgegebenen Regelungen halten wollen.
Ein Thema, was wir auch nie wirklich angehen konnten sind die Ampelschaltungen. Planungsziel ist hier noch immer: maximaler Kfz-Durchlass! Das ist im Verwaltungsdenken und -handeln besonders tief verwurzelt – nicht nur hier in Leipzig. Über dieses Thema hat der ADFC sich auch noch nie wirklich angelegt mit der Verwaltung.
Die "Durchlassfähigkeit" für den Autoverkehr ist immer noch die heilige Kuh. Es wird z. B. nicht davor gescheut, bei der Markierung von Radfahrstreifen diese 200 m vor dem Verkehrsknoten enden zu lassen, wo sich die Radler dann in den fließenden Kfz-Verkehr einordnen müssen. Der Einsatz einer überbreiten anstatt zweier Kfz-Spuren in der Knotenzufahrt könnte da schon Abhilfe schaffen! Aber sowas würde vielleicht nicht erwünschte Auswirkungen auf die o. g. „heilige Kuh“ haben. Solche mit eigentlich immer mit viel Stress behafteten Unterbrechungen in der Radfahrerführung halten natürlich sehr viele Menschen vom Fahrradfahren ab, weil sie an solchen Stellen Angst vorm Radfahren bekommen.
Da höre ich ja schon auch etwas Resignation heraus. Geht dir alles zu langsam, bist du eher resigniert, oder blickst du dennoch optimistisch in die Zukunft? Was ist dein Resümee nach über 30 Jahren für den Radverkehr in Leipzig?
„Ihr seid der Zeit voraus!“ Das ist uns, und mir persönlich gegenüber auch, immer mal wieder geäußert worden – teils abwertend, teils kritisch, teils anerkennend. Und früher bin ich mir schon manchmal vorgekommen wie „ein Rufer in der Wüste“. Wir machten und machen uns Gedanken, sprachen Dinge an, die sehr viele Mitmenschen auch heute noch nicht „auf dem Schirm haben“ oder wovor sie schlichtweg Angst haben. Und natürlich geht den Umweltaktiven da immer alles viel zu langsam voran.
Aber inzwischen ist, insbesondere der Radverkehr, und das tatsächlich weltweit, nicht mehr wegzudenken: als zentrale Säule einer umwelt- und ressourcenschonenden Mobilität, als ernst zu nehmender Beitrag für den Klimaschutz und für eine Verkehrswende. Insoweit gibt es schon eine gewisse Genugtuung, dass sich unser langer Atem gelohnt hat. Dass jetzt Dinge – unübersehbar - auf dem Vormarsch sind, für die wir uns, und ich mich auch ganz persönlich, schon vor mehr als 30 Jahren eingesetzt haben.
Das Gespräch führte Konrad Krause.