Die Ende April in Kraft getretene Novelle der Straßenverkehrsordnung und die darin enthaltenen härteren Strafen für Radwegparker haben für viele Emotionen in den Kommentarspalten und bei uns für einen gut gefüllten Posteingang gesorgt. Höchste Zeit, sich einmal eingehender der Frage zuzuwenden, die uns (selten als Frage, öfter als Behauptung) in den letzten Tagen erreichte. Gibt es wirklich so viele Kampfradler auf den Straßen? Sind Radfahrer allgemein rücksichtsloser? Verstoßen sie öfter gegen Verkehrsregeln als zum Beispiel Autofahrer? Wir haben uns zu diesen und weiteren Fragen aktuelle Forschungsergebnisse einmal genauer angesehen.
Jetzt einmal ganz ehrlich, geben wir es doch zu: Egal ob jung oder alt, arm oder reich, bewusst oder unbewusst, zu Fuß, mit dem Auto oder mit dem Rad - jeder von uns hat schon mal irgendwann und irgendwo eine Verkehrsregel missachtet. Genau genommen gibt es ja auch nicht die Radfahrer, die Autofahrer oder die Fußgänger. Alle von ihnen sind Menschen, die sich - mal mehr oder weniger - auf die eine oder andere Art fortbewegen. Könnte es nicht auch sein, dass sich alle - mal mehr oder weniger - auch an die Verkehrsregeln halten?
Während sich die Forschung bisher fast ausschließlich mit der Art und Häufigkeit von Verkehrsverstößen beschäftigt, hat die Studie "Scofflaw bicycling: Illegal but rational" in einer weltweiten Online-Umfrage 2016 erstmalig auch konkret die Frage nach dem Warum gestellt.
Um eine repräsentative Datenbasis zu schaffen und dabei möglichst auch Probanden zu erfassen, die sich sonst nicht an Umfragen beteiligen, wählten die Forscher der Universität Boulder, Colorado die Form einer Online-Umfrage nach dem Schneeballprinzip. Zwar stammt die Mehrheit der insgesamt fast 18.000 Studienteilnehmer aus den USA, aber Quervergleiche innerhalb der Studie ergaben, dass die Ergebnisverteilung auch in anderen Ländern mit z. B. insgesamt höherem Radverkehrsanteil vergleichbar waren.
Die Befragung wurde anhand von bildlich dargestellten Verkehrssituationen mit mehreren Antwortmöglichkeiten durchgeführt. In der Auswertung bekamen die Antworten eine numerische Einteilung von 1=gesetzeskonform über leichter und schwerer Verstoß bis hin zu 10=rücksichtslos.
Fast alle Menschen verstoßen gegen die Regeln
Von den Befragten wählten 99,97% als Autofahrer, 97,9% als Radfahrer und 95,87% als Fußgänger mindestens eine Antwort aus, die einen Gesetzesverstoß darstellt. Das widerlegt recht deutlich die häufig am Stammtisch und medial verbreitete Meinung, dass besonders Radfahrer sich ordnungswidrig verhalten.
Obgleich die Ergebnisse der Studie zeigen, dass nahezu kein Mensch frei von Schuld ist, so zeigen sie auch, dass - eingeteilt nach Schwere der Vergehen - die überwiegende Mehrheit der Radfahrenden mit einem Durchschnittswert unter 3 auf der oben genannten Skala von 1 bis 10 maximal leichte Verstöße zu Protokoll gab, also solche bei denen keine anderen Verkehrsteilnehmer behindert oder gefährdet wurden. Männliche Probanden zeigten sich mit im Schnitt 2,46 Punkten "risikofreudiger" als weibliche, ebenso liegt der Wert bei jüngeren Menschen geringfügig höher als bei älteren. Ein eindeutiger Zusammenhang in Bezug auf Bildungsniveau, Durchschnitteinkommen oder ethnische Herkunft konnte dagegen nicht ermittelt werden.
Unterschiede zwischen verschiedenen Städten waren allgemein stärker ausgeprägt als die Unterschiede zwischen einzelnen Nutzergruppen. Es gibt also durchaus so etwas wie eine lokale Mobilitätskultur. Auch der ADFC-Fahrradklima-Test zeigt solche Differenzen.
Den ADFC erreichen immer wieder Meinungen, nach denen in letzter Zeit deutlich mehr "rücksichtslose Radler" unterwegs sind als "früher". Dabei wird in der persönlichen Wahrnehmung oft vergessen, dass der Radverkehrsanteil, und damit die absolute Zahl der Radler im Straßenbild, insgesamt stark zugenommen hat - laut SrV-Studie von 12% auf auf über 17% im sächsischen Durchschnitt. Prozentual nimmt verkehrswidriges Verhalten bei höherem Radverkehrsanteil jedoch eher ab.
Eigene Sicherheit als Hauptmotiv
Die Auswertung der US-Umfrage kommt zu dem Schluss, dass der größte Anteil der Radfahrer weder rücksichtslos noch waghalsig handelt. Im Gegenteil: Während 77% der Autofahrer und 85% der Fußgänger ihr gesetzeswidriges Verhalten mit dem Motiv der Zeitersparnis begründeten, nannten Radfahrer zu 71% die eigene Sicherheit als Hauptmotiv. Zeitersparnis folgte nach Energiesparen erst an dritter Stelle der Beweggründe. All diese Motive klassifiziert die Studie als "rationale" Entscheidungsfaktoren. Die Zahl der Verstöße aus purer Rücksichtslosigkeit ist nahe null.
Sicherheit: Straßen mit hohem Durchgangsverkehrstempo führen automatisch dazu, dass Radler lieber illegal auf den Fußweg ausweichen statt sich dem Risiko auszusetzen, knapp überholt zu werden. Bedarfsampeln, deren Induktionsschleife nur auf schwere PKW anspricht, lassen Radler allein im Regen stehen und schlechte Anbindung und Querungsmöglichkeiten provozieren beispielsweise zum "Geisterradeln" auf dem Radweg in Gegenrichtung.
Das Motiv Energiesparen ist ein weiteres fahrradspezifisches: Während es Autofahrer nur ein leichtes Antippen des Pedals kostet, um abzubremsen und wieder zu beschleunigen, kostet dies Radfahrer ungleich mehr Kraft, die aber nur sehr begrenzt zur Verfügung steht. Eine Untersuchung der Universität Berkeley/Kalifornien hat ergeben, dass ein Durchschnittsradler mit 100 Watt Leistung auf gerader Straße mit etwa 20 km/h dahinfahren kann. Befindet sich auf gleicher Strecke alle 100 Meter eine Kreuzung mit Stoppschild, so wäre er bei gleicher Leistung etwa 40% langsamer, da er jedesmal komplett zum Stehen kommen muss. Um die Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/h trotzdem zu halten, müsste er gar 500 Watt auf's Pedal bringen, was nur Profisportlern vorbehalten ist. Deshalb werden einige mit ihrem Fahrrad weiterhin auch verkehrsreichere, aber kreuzungsarme Hauptstraßen nutzen, obwohl oberflächlich betrachtet die ruhige, parallele Nebenstraße oder der Radweg mit ständigen Grundstücksausfahrten und Bordsteinkanten viel sicherer wäre.
Folgen verkehrswidrigen Verhaltens
Auch wenn in der Häufigkeit der Verkehrsvergehen nur geringe Unterschiede zwischen den Verkehrsmitteln bestehen, so sind doch die Folgen bei Unfällen durch Fehlverhalten doch sehr unterschiedlich.
WIe nebenstehende Grafik aus den Niederlanden zeigt, sind bei Unfällen mit Verkehrstoten fasst ausschließlich PKW und LKW der Unfallgegner. Fußgänger und Radfahrer gefährden hingegen maximal sich selbst. Leider ist anhand der Daten des Sächsischen Landesamts für Statistik keine so detailierte Auswertung möglich.
Fazit
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass das Fahrrad selbst in Städten mit relativ hohem Radverkehrsanteil in der Planung zu wenig berücksichtigt wird. Es reicht dabei nicht, dass Radverkehrsanlagen "irgendwie" vorhanden sind, sie sollten auch so geplant sein, dass sie nach dem Prinzip der selbsterklärenden Straße zu regelkonformer Nutzung einladen. Zu den Faktoren für mehr Sicherheit und Akzeptanz zählen neben ausreichender Breite und Oberflächenqualität insbesondere Stetigkeit, Sichtbarkeit für andere Verkehrsteilnehmer, intuitive Zielführung und Aufrechterhaltung eines gleichmäßigen Verkehrsflusses.
Eine weitere Empfehlung der Studie ist, dass mit dem Ziel Vision Zero Verkehrskontrollen vermehrt mit dem Fokus auf das tatsächliche Gefährdungspotenzial erfolgen sollten und nicht um möglichst viele kleinere Verstöße ohne wirkliche Sicherheitsrelevanz aufzudecken.
Dass Verkehrskontrollen der Polizei in den letzten Jahren aus Spargründen stark zurückgefahren wurden, bemängelt der ADFC Sachsen übrigens seit längerem. Gerade im Zuge der aktuellen StVO-Änderung sollten diese gerade unter dem aufklärerischen Aspekt verstärkt durchgeführt werden und zwar bei allen Verkehrsteilnehmern gleichermaßen. Eine Interessenvertretung wie der ADFC kann und darf rein rechtlich auch gar nicht selbst solche Kontrollen durchführen. Hier ist also klar die Polizei und damit mittelbar auch die sächsische Landespolitik gefragt, denn letztere stellt die Mittel für die Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei bereit.